- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 22
Immer wieder Dienstag
Bihun–Suppe. Heute sollte es Bihun–Suppe mit Paprika und einem Schuss Rotwein bei Hui-Xie geben.
Sie spürte die Blicke sehr wohl, während sie durch den Discounter schlenderte und Paprika in den Korb packte. Es war ja nicht so, dass ihr diese Blicke fremd waren. An manchen Tagen genoss sie es sogar, aber das waren schlechte Tage und meistens stimmten sie die Blicke nur unsicher, unglücklich und unzufrieden mit ihrem ganzen Dasein. Wenn sie zurückschaute, drehten sich die Leute weg, widmeten sich wieder ihrer Arbeit, taten beschäftigt; taten etwas, was sie sonst nicht taten. So wie gerade der junge Verkäufer, der seinen Blick wieder hurtig auf seine Ware richtete, als hätte er ihn nie woanders gehabt.
Am Ende des Ganges blieb ein Mann stehen und schaute ihr hinterher. Auch das spürt man, und das war ja auch das Schlimmste daran: Dass sie dachten, sie würde es nicht merken.
Hier kannte jeder jeden, und das war das Problem an diesem Nest. Viele Leute erzählten ihr von Berlin, von der großen Stadt, oder von Hamburg, wo es so leicht sei ein Doppelleben zu führen oder sich eine Existenz aufzubauen, um es vielleicht eines Tages schaffen zu können.
Vor den Dosensuppen standen zwei tratschende Frauen mit Dosensuppen in der Hand und versperrten ihr den Weg zum Regal. Als stünden sie absichtlich dort. Sie hielten inne, warfen sich wissende Blicke zu, starrten Hui-Xie an und wichen nicht zur Seite. Nur ein wenig Abstand wäre freundlich gewesen, wäre höflich gewesen.
„Verzeihung? Darf ich mal bitte?“, sagte sie mit ihrem Dialekt, aber gut verständlich und deutlich.
Keine Antwort, nur intensive Augen.
Und sie stand genau zwischen diesen Augen, die belustigt schienen, während hinter ihnen Holger Hinkelkin mit Familie vorbeischritt, kurz zum Gruße nickte, an Hui-Xie herunterschaute und seiner Frau um die Hüfte griff. Am Dienstag wird Hui-Xie ihn sehen. Er wird seiner Frau erzählen, es sei beim Kegeln etwas später geworden. Wie jeden Dienstag.
Während sie ihren Lieblingsrotwein suchte, sah sie ihn und ein paar der Anderen beim Schnapsregal stehen. Sie schauten abwechselnd zu ihr, klopften sich auf die Schultern und einer von ihnen deutete in Luftgitarrenmanier eine Stellung an. Die anderen lachten, lehnten sich ins Kreuz und strichen sich über ihre stolzen Bierbäuche.
An der Kasse standen sie dicht hinter ihr. Ganz dicht! Ihre Frauen waren mit den Kindern „schon mal vorausgegangen“. Vater wolle mit den Kollegen noch auf den Sportplatz.
Einer von ihnen griff ihr fest an den Arsch. Die Kassiererin verdrehte die Augen, kassierte das Geld für die Bihun-Suppe, den Rotwein, die Paprika und schämte sich ihres Akne zerstörten, fettigen Gesichtes. Hui-Xie ignorierte beides, ging raus, ging schnell. Die Männer folgten ihr, lachten und öffneten den Schnaps, den sie gekauft hatten. Jeder eine Flasche, verschiedene Sorten, die sie untereinander tauschten. Es musste anscheinend schnell gehen.
Es war schon dunkel und die Straßenlaternen waren noch nicht angesprungen, als Hui-Xie zu rennen begann.
„Heute wird nicht bezahlt!“, riefen sie immer wieder. „Weißt du eigentlich, wie lange ich für dich schuften muss?!“, schrie Günter, den sie an der Stimme erkannte, und schien tatsächlich eine Antwort zu erwarten. Deswegen wiederholte er seine Frage in regelmäßigen Abständen.
Sie hatten ihre Flaschen geleert, worauf sie sehr stolz waren, und warfen damit nach ihr. Hui-Xie zog ihre Schuhe aus und rannte so schnell sie konnte, den Tränen nahe. Sie schaute sich nicht um, verlor ihre Weinflasche, die an der Bordsteinkante zerplatzte, ihre Bihun-Suppe, ihre Paprika. Doch es half nicht: Mehrere Hände rissen an ihr. Sie fiel und wollte schreien, doch eine Hand wurde ihr auf den Mund gedrückt. Sie hörte Reißverschlüsse und wurde ins Gebüsch gezerrt. Der Ort war perfekt. Perfekt für die Täter. Als hätten sie nur gewartet, bis ihr Opfer an dieser Stelle der Straße angelangt war, um zuzuschlagen. Dann wurde ihr die Hose runtergerissen. Die Stimmen der Männer vermischten sich zu einem Brei aus perversen Lauten. Sie kniff die Augen so fest zu, wie sie konnte und dachte an ihre Familie in der Heimat, an ihre Mutter, an ihren Freund, den sie mal hatte.
Dann wachte sie schweißgebadet auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie von diesem fürchterlichen Tag geträumt hatte. Sicher war sie zur Polizei gegangen, aber es wäre auf Aussage gegen Aussage hinausgelaufen. Und wer glaubt schon einer Nutte! Spermaspuren hätten sie gefunden. Sicherlich. Aber eine Vergewaltigung hätte sie damit noch lange nicht nachweisen können. Sie hätte diese Wichser höchstens bloßstellen können; vor ihren Frauen und in der Öffentlichkeit. Aber was hätte sie davon gehabt? Kein Geld mehr zum Leben! Und so klopfte auch heute Holger Hinkelkin an ihre Tür, lachte und sagte: "Es ist Dienstag!" Es war nicht das erste, und auch bestimmt nicht das letzte Mal.