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Fjodor Dostojewski: Die Sanfte

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14.03.2002
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Fjodor Dostojewski: Die Sanfte

Der Untertitel des kleinen Bändchens lautet: Eine phantastische Erzählung. Phantastisch, so erklärt der Erzähler im Vorwort, weil sie quasi "stenografisch" erzählt sei, als hätte jemand die Gedanken des Protagonisten während ihrer Entstehung notiert, der Erzähler sie letztlich (nur noch) in eine ansehnliche Form gebracht.

Plot
Ein Ehemann, dessen Frau sich gerade, einige Stunden zuvor nur, das Leben genommen hat, geht neben der aufgebahrten Leiche auf und ab. In Gedanken durchstreift er alle Stadien der Beziehung zu der weit jüngeren Braut.

Beim Protagonisten handelt es sich um einen ehemaligen Offizier, der unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde und sich nun als Pfandleiher den Unterhalt verdient. Ein Beruf, dessen er sich schämt und brüstet, den er ebenso als Ideal, wie auch als, allerdings selbstauferlegte, Schande und Selbstgeißelung darstellt.

Dem Mädchen begegenet er mehrfach, als sie zu ihm kommt, um Wertgegenstände zu verpfänden. Ob deren Armut und den Heiratsplänen ihrer Tanten, gelingt es ihm schnell, sie von einer Ehe mit ihm zu überzeugen, die rasch geschlossen wird. Dem anfänglichen Glück des Mädchens begegnet er mit Schweigen, handelt mit dem festen Vorsatz, ihren Willen zu brechen.

Die Ehe ist durch Schweigen gekennzeichnet, in das sich langsam ein Aufbegehren seitens der Frau mischt. Er versagt ihr alles, endlich auch das gemeinsame Bett, opfert sich aber für sie auf, sobald er sie gefährdet glaubt, krank und schwach.

Am Ende gesteht er ihr seine Liebe, will sich ihr auf ewig unterordnen, mit ihr Urlaub machen, sein Geschäft verkaufen. Wenige Tage später, alle Vorbereitungen werden bereits getroffen, stürzt sie sich, eine Madonnenikone in den Händen, aus dem Fenster.

Stil, Erzählweise, Besonderheiten
Unerbittlich trägt der Protagonist sich selbst seine Geschichte vor, versucht sich zu erklären, wie alles kommen konnte. Er belügt sich, korrigiert, widerspricht sich, hastet weiter. Die sehr kurze Erzählung, die ich auf weit weniger als zwanzigtausend Wörter schätze, vermag es, den Leser zu fesseln, die Unruhe des Protagonisten selbst zu empfinden.

Wer Dostojewski schätzt, dem kann dieses Bändchen sehr empfohlen werden. Vom Stil teilweise an den Doppelgänger erinnernd, aber ohne dessen verstörenden Inhalt, steht im Zentrum ein Mensch voller Schwächen und Gemeinheiten, pathetisch übersteigerten Gefühlsausbrüchen und stiller Liebe.

Wer Dostojewski nicht kennt, sollte von diesem Band keinen Rückschluß auf dessen ganzes Werk ziehen, besser mit etwas Anderem beginnen. Zwar erkennt man den Autor deutlich, doch der Erzählton hebt sich, der erzählten Handlung angemessen, deutlich von großen Werken wie "Verbrechen und Strafe" oder "Der Idiot" ab.

Textauszug
"Seltsamkeit ist keine Schande, im Gegenteil, sie hat für manchen weiblichen Charakter etwas Attraktives. Kurzum, ich schob die Lösung des Problems bewußt hinaus [...] So verlief der ganze Winter im Warten auf etwas." (S. 62)

Fazit
Ich habe "Die Sanfte" sehr gerne gelesen, hatte bei der Lektüre des Bändchens wieder diese schwammige Dostojewski-Vision von der "russischen Seele" in ihrer Widersprüchlichkeit und fremdartigen Logik.

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Autor: Dostojewski, Fjodor Michailowitsch
Titel: Die Sanfte. Eine phantastische Erzählung. Aus dem Russischen von Wolfgang Kasack.
Originaltitel: Krotkaja. Fantastičeskij rasskaz.
insel Taschenbuch 1138
ISBN 3-458-32838-6
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