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Jewgenij Samjatin: Wir

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17.10.2001
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Jewgenij Samjatin: Wir

Wer sich a) für visionelle Literatur interessiert und b) mal einen russischen Autoren kennenlernen will, der MUSS Samjatin's "Wir" lesen.

Mal kurz was zum Inhalt...
die alptraumhafte Welt eines totalitären Staates: D 503, Bürger des Einzigen Staates und Konstrukteur des Raketenweltraumschiffes Integral, berichtet in seinem Tagebuch vom Leben in einer strahlenden, kristallen durchsichtigen Stadt, in der die Bürger als uniformierte Nummern leben. Von der Arbeit bis zur Liebe ist das Leben streng nach mathematischen Gesetzen organisiert, jede Regung wird beobachtet und kontrolliert. Doch D 503 entdeckt in sich dunkle Triebe aus einer längst vergangenen Zeit – bei ihm hat sich »eine Seele gebildet«. Die ganze seelenlose Ordnung der technischen Welt gerät durcheinander ...

Hört sich nach Huxley oder Orwell an? Stimmt...beide haben Samjatin's Roman für ihre bekanntesten Werke als Vorlage benutzt; Huxley schrieb Brave New World 12, Orwell 1984 28 Jahre später.

Es gibt eine Ausgabe mit einem sehr interessanten Nachwort von Jürgen Rühle (k.A. wer das ist ;) ) mit Hintergrundinfos zur Person Samjatin und dem historischen Hintergrund; Samjatin galt in Russland als "Kulturrevolutionär", sein Roman als "Schmähschrift auf die sozialistische Zukunft" und seine Theorien seien "eine bloße Maskierung der sehr prosaischen und sehr verständlichen Sehnsucht der Bourgeoisie nach dem verwirkten Wohlstand und ihres Hasses auf diejenigen, die sie dieses Wohlstandes beraubt haben".

Wir ist in der Sowjetunion nie erschienen. 1931 schrieb Samjatin einen offenen Brief an Stalin, in dem es hieß, die Atmosphäre einer systematischen, von Jahr zu Jahr sich steigernden Hetze mache es ihm unmöglich zu schreiben, bedeute seinen Tod. Er bitte, dieses »höchste Strafmaß« durch Verbannung ins Ausland zu ersetzen, damit er zurückkommen könne, »sobald es bei uns möglich sein wird, der Literatur mit großen Ideen zu dienen". Erstaunlicherweise erhielt er ein Jahr später von Stalin persönlich eine Ausreisegenehmigung.

Zum Schluss noch mein absolutes Highlights aus dem Roman (Kurze Erklärung: Im Einzigen Staat basiert alles auf Zahlen, alles ist in Zahlen und der Mathematik begründet). Daß diese Hoffnung schließlich illusorisch sein wird, drückt Samjatin wieder mathematisch aus, in dem Gespräch zwischen D-503 und I-330:

»Das ist ja Wahnsinn! Ist dir nicht klar, daß das, was du da planst, eine Revolution ist?«
»Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahnsinn sein?«
»Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben. Das wissen alle.«
Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch: »Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist ein Philosoph. Bitte nenn mir die letzte Zahl.«
»Was meinst du damit? Ich verstehe nicht ... Die Anzahl der Zahlen ist doch unendlich. Was für eine letzte Zahl willst du also?«
»Und was für eine letzte Revolution willst du? Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich.«

Die Geschichte hat Samjatin recht gegeben. Der Rote Oktober war nicht die letzte Revolution.

 

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