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Haruki Murakami: Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt

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27.03.2002
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Haruki Murakami: Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt

HARD-BOILED WONDERLAND

Der namenlose Held, der Ich-Erzähler dieses Romans lebt für sich allein in seiner eigenen, kleinen Welt. Mitte 30, geschieden, arbeitet als Kalkulator für “das System”. Seine Aufgabe besteht darin geheime Daten mittels dem Shuffeln zu codieren, damit sie nicht dem Gegner “die Fabrik” in die Hände fallen. Die Methode ist perfekt, denn der Schlüssel zur Codierung ist der Kalkulator selbst. Ihm wurde die Persönlichkeitsstruktur eines bestimmten Moment seines Lebens, als zweiter Schaltkreis in das Gehirn gepflanzt. Beim Shuffeln betritt der Kalkulator diesen ewigen Moment um mit ihm die geheimen Daten zu verschlüsseln.
Als der namenlose Ich-Erzähler einen neuen Auftrag vermittelt bekommt, gerät sein Leben plötzlich aus den Fugen. Seine Wohnung wird verwüstet und eh er sich versieht befindet er sich auf einer atemberaubenden Jagd durch Tokyos, unterirdisches, von bösartigen Schwärzlingen bewohnten Höhlensystem.


DAS ENDE DER WELT

Der namenlose Held, der Ich-Erzähler betritt das Ende der Welt mit den Einhörnen durch das große Tor. Der Wächter trennt ihn von seinen Schatten und sticht ihn mit einem Messer in die Pupillen. Es tut nicht weh, macht seine Augen aber für alles Grelle empfindlich. Fortan soll er abends als Traumleser in der Bibliothek arbeiten.
Sein Schatten (er hat eine eigene Persönlichkeit) bleibt zum Sterben bei dem Wächter. Bald wird dem Ich-Erzähler klar das mit dem Schatten auch seine Seele sterben wird. Er erfährt es von den seelenlosen Bewohnern dieses tristen Stadt dessen Charakter irgendwo zwischen verfallenem Plattenbauambiente und öder, ländlicher Dorfidylle schwankt.
Eine Flucht scheint unmöglich, denn die Stadt wird von einer riesigen Mauer umschlossen. Beide, Schatten und Erzähler wollen es trotzdem versuchen, doch schon bald legt sich der melancholische Charakter der Stadt, wie ein Krampf über die Seele des Helden.

Abwechselnd bauen sich diese beiden Handlungen, Kapitel für Kaptitel zu einen ganzen auf und anfangs überraschte und irritierte mich das ein wenig. Denn obwohl die Szenarien völlig unterschiedlich sind, merkt man doch sofort das es sich hier um ein und dieselbe Person handelt.
Aber der schräge Einstieg gefiel mir ganz gut und hielt mich über die ersten, etwas verwirrenden 50 Seiten bei Laune. HARD-BOILED WONDERLAND beginnt in einem Fahrstuhl, der so langsam fährt das der Held nicht weiß ob die Fahrt nach oben oder nach unten geht. Er erstarrt in der scheinbar schallabsorbierenden Atmosphäre und empfindet sich selbst wie ein Stillleben “Mann im Fahrstuhl”.
Trockener Humor, sowie ständig ein Bier oder einen Whiskey in der Hand. Dazu alte Jazzmusik aus seiner Jugend und ewig das Gefühl viel zu Müde zu sein. Dieser Typ ist ziemlich cool, ihn bringt so schnell nix aus der Ruhe. Als ihm ein wildgewordener Riese die Tür einschlägt, setzt er sich seelenruhig in die Küche und öffnet sich erst mal ein Dosenbier.
Frauen, von ihnen lernt er zwei kennen, werden in dem Buch in einem wundervoll absurd schimmernden Glanz dargestellt, das es mir das Herz öffnete. Lag der coole Typ beispielsweise mit der Bibliothekarin nackt im Bett um sich, dank mangelnder Erektion, einen euphorischen Vortrag über Einhörner anzuhören, war mir als würde ich selbst neben dieser intelligenten, humorvollen (und vollschlanken !) Frau liegen, die zuvor den ganzen Kühlschrank leergefressen hat.
Oder als der coole Held mit der 17jährigen, ausschließlich in Rosa gekleideten “Dicken” durch die Dunkelheit des Untergrunds rennt um völlig verblüfft festzustellen das dieses Mädchen ihm in jeder Weise um Lichtjahre voraus ist. Sie ist nicht nur eine unerschöpfliche Sportskanone, sondern auch eine Intelligenzbestie mit blitzschnellem Verstand. Doch am unschlagbarsten ist ihre direkte Art:
“Klar, deshalb achte ich auch immer darauf schön dick zu bleiben. Ich esse viel Butter und Sahne, sonst nehme ich im Handumdrehen ab”
Man muss dieses Mädchen einfach lieben.

Dazwischen muss der Held am Ende der Welt, damit beginnen die alten Träume aus Einhörnschädeln herauszulesen. Auch hier lernt er eine Bibliothekarin kennen und verliebt sich in sie. Doch sie kann ihm alles geben nur eben diese Liebe nicht erwidern. Seine Seele verkrampft, auch weil er weiß das sie bald sterben soll.
Trotz des herben Kontrastes zum actionreicherem, teils mit einigen Manga-Phantasien bespicktem WONDERLAND, entwickelt DAS ENDE DER WELT einen wundervollen Kontrast den ich auf keinem Fall nur als Begleitgeschichte abtun würde.
Mit dem kalten Winter legt sich ein trüber Schleier über diese seelenverlorene Seelenlandschaft. Der Held beginnt von der Stadt eine Zeichnung anzufertigen und ich lerne seine mysteriösen, geisterhaften Gegenden und Bewohner kennen. Es ist eine stille Welt, die nur die Einhörner verlassen können. Und doch hat dieser unwirkliche Frieden seinen Reiz. Hier gibt es nichts schlechtes, weil es auch nichts wirklich gutes gibt. Ein gefühlloses Utopia, die perfekte weil immer gerechte Welt.

Nach einer Weile des Lesens beginne ich nicht mehr wirklich darüber zu grübeln, wie denn nun diese beiden Welten zusammengehören könnten, ich fühle es einfach und es überrascht mich etwas wie sie zum Ende doch noch zueinander finden, wenn auch auf ihre Art.

Kritiker behaupten Murakami Haruki würde “gegen die Traditionen seines Landes, das Glück des Individuums verherrlichen “. Nun bin ich kein Japaner, doch ich könnte mir vorstellen das dieser Roman, von der älteren Generation dort, so aufgenommen wird.
Die Geschichte strotzt nur so von kauzigen Individualphantasien Der Ich-Erzähler legt auch im Wonderland eine Mauer um sich herum, bestaunt zwar alles neuartige, bleibt für sich doch lieber bei seinen altgewohnten Routinen. Erstaunlich ist dabei für mich als westlicher Leser, das hier die Individualisierung als Notausgang verstanden wird aus einer Gesellschaft in dessen Dienst man zu stehen hat. Denn unsere landläufige Sicht auf europäische Verhältnisse fordert ja vielmehr das genaue Gegenteil: Weg von lähmenden Eigenbrötlerei hin zu einem neuen Gemeinschaftsgeist, nur das keiner so recht damit beginnen möchte. Ja hier hat man oft den Eindruck das die überwiegend schon kommerzialisierte Individualisierung oft nur in der selbstgefälligen Sackgasse der Egozentrik endet. Doch Murakamis Held geht wirklich seinen eigenen Weg, entdeckt sein eigenes Wonderland mitten in der Realität und findet so zur inneren, und deshalb auch nach außen reflektierenden, Zufriedenheit. Gerade dieser Aspekt machte das Buch für mich als Europäer so interessant.

Rein von der Erzählkunst ist hier kein Ausnahmewerk zu erwarten, aber Murakami weiß wirklich zu unterhalten und verführt mit einem wilden Mix aus Poesie, Achterbahn Action und dezent ausgeleuchtetem Ego-Kino. Ich denke ich werde mich noch lange an dieses Buch erinnern.

 

Ja! Noch ein Murakami Anhänger! In Deutschland werden es ja seit dem Krach im Literarischen Quartett scheinbar immer mehr.
Dein Kritik/Vorstellung des Buches finde ich ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Den Roman kann ich auch nur jedem empfehlen, obwohl er definitiv am "seltsamen" Ende des Murakami-Spektrums steht, und somit einen ziemlichen Kontrast zu seinen "realistischen" Werken, "Gefährliche Geliebte" und "Naoko's Lächeln" steht. Irgendwo dazwischen liegen "Wilden Schafsjagd" und "Tanz mit dem Schafsmann" (der glaube ich diesen Monat in Deutschland erscheint). Dieser Kontrast ist aber im Grunde nur oberflächlich, den in allen Werken steht, wie schon von Dir angesprochen, der individuismus des Helden, sowie allerdings auch die damit verbundene Einsamkeit, im Vordergrund.
Das mit der Individualität Vs, japanische Gesellschaft ist übrigens eine interessante Frage bei Murakami. Als er Ende der 70er seinen ersten Roman veröffentlichte, waren sein Stil und seine Themen sicherlich sehr "neu". Mittlerweile hat sich aber auch die japanische Gesellschaft stark verändert, es gibt viele Autoren (z.B. Banana Yoshimoto) die stilistisch ähnlich sind, und Murakami ist auch schon über 50 - gehört also selbst schon fast der älteren Generation an. Mit zunehemendem Alter scheint sich dieser Einzelgänger auch mehr und mehr soziale Fragen zu widmen. So geht es in Mr. Aufzugvogel zum Teil um japanische Kriegsverbrechen, oder auch sein ertses Dokumentarisches Werk, Untergrundkrieg, in dem er Opfer und Täter des Giftgasanschlags in der Tokioter U-Bahn interviewt. Ich würde also sagen, dass seine Werke weniger eine Reaktion gegen den Gruppenzwang der (japanischen) Gesellschaft sind, sondern, dass der Konflikt zwischen diesen beiden, sich gegenseitig ausschliessenden Aspekten problematisiert wird. Die Helden in seinen Büchern können sich unmöglich der Gruppe anschliessen, aber ihr Alleingang ist dafür auch oft ein Weg der schmerzlichen Einsamkeit, und des Verlustes.

 

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