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Andrej
Der Wodka wie der gewürzte Teer selbst. Werk der Tagessonne.
Zu dem Zeitpunkt auch muss es gewesen sein, dass sich mein Unterhemd in meinen Körper gebrannt hatte. Schon seit längerem trug ich die Hosen, welche ich eigentlich als Unterwäsche mitgenommen hatte.
Erhitzt – verhitzt – zerhitzt
Das Wasser wie Opfergaben. Ungnädiger Gott.
Mit der schwachen Creme auf unseren Nasenflügeln bemerkten wir, wie der Wodka verpuffte, bevor er den Kontakt mit dem Teer aufnahm. Die Sonne triumphierte über uns.
Denn auch durch sie versiegte die Wirkung des Alkohols, ersetzt durch ihren Schlag.
Warm – Schmerzwarm – ohnmächtig warm
Peitschenschreie des Sklaventreibers füllten die Abendflasche Wodka.
Die Mittagspause und zwei positionierte Pylonen dienten einem Fußballspiel. Essen in den Magen zu prügeln wäre so sinnlos gewesen wie die Füße in den Schuhen zu lassen. Schon nach Zeigerzucken quoll der Schweiß aus den Latschen, und Sandalen strangulierten nur die Hufe wie zu fest gezogene Riemen.
Man durfte nicht stehen bleiben, darin lag der Trick. An meinen Fußbetten war Hornhaut, die ich abends mit Wachs massierte.
Rennendes Brennen – brennendes Rennen – zerbrennender Stillstand
Neben den Leitplanken nichts als Abgrund, der seine Zähne fletschte. Ein reißender Strom, der es nicht dulden würde, ihn zu durchschwimmen. Eine Straße in der Luft.
Ein Tritt gegen den Ball, dessen Leder schrie und die Nähte knirschten, quälte den Fußrücken. Wodka half bei offenen Wunden von innen wie außen. Zu fest treten durfte man ohnehin nicht, denn das Aus des Balls beendete zugleich das Spiel. Doch mit den Lebensmitteln aus der weit entfernten Stadt kamen auch neue Bälle zu uns.
Der Schatten - eine kalte Dusche. Ein Schlag mit einem Eisblock.
Erregt die Luft hinter uns und vor uns der offene Himmel gleichwohl.
Die Mütze abzusetzen hätte die Wirkung eines Kopfschusses gehabt. Die Sonne wartete nur darauf.
Die schlimmsten Stellen pflegte ich mit strömenden Cremes und schließlich mit Wachs, um Ruhe zu finden des Nachts. Den müden Rest von mir balsamierte ich mit Wodka und Salzstangen.
In den Baracken auf festem Boden wachsten sich die Jungs von der Nachtschicht. Während dieser schützt der Mond so behütet.
Ich tat was ich konnte, um die Muttern ins Gewinde zu pfeffern, Andrej besorgte es ihnen bis sie quietschten. Vier Mal pro Pfosten. Er war schneller als ich und stand dann freundlich, mit dem siebzehner Schlüssel in den Handflächen, wippend hinter mir und spendete Schatten.
„Deswegen chabt ihr Krieg verloren!“, scherzte er immer und gab jedem Meter Leitplanke einen Klaps.
Die anderen gesichtslosen „Söldner“ nannten ihn „Russe“, da ihnen der Name „Andrej“ nicht ausländisch genug klang. Aber nur außerhalb seiner Spannweite.
Sie klatschten sich getränkte Handtücher auf die verglühte Haut. Nur Andrej und mir nicht.
Mit jedem neuen Pfahl lachte er der Sonne ein Stück breiter entgegen, wirkte wie ein Kind mit offenen Armen.
Ich stützte mich auf ihn in die Baracke, er sich auf den Gedanken an seine Tochter.
Diese wie Diskant des Klaviers. Aus dem Tonbandgerät; weit weg.
Man hörte Kinderfüße über klebrigen Holzboden tapsen, den Deckel des Klaviers hochstemmen.
Und mit jedem Anschlag der Tasten, mit jedem Ton, der seinen erhitzten Körper durchzuckte, atmeten seine Muskeln, und mit jedem Klirren ihrer Stimme erhob er das zerborstene Kinn einen Hauch weiter gen Sonne.
Eine Sehnsuchtsträne knisterte aus dem Tonband und fand sich in Andrejs traurigem Gesicht wieder. Man musste ihrer Sprache Worte nicht mächtig sein, um von ihnen berührt zu werden. Mein Bettnachbar konnte jeden Wimpernschlag, jedes Lippenbefeuchten und jedes Augenreiben aus dem leiernden Tonband choreographieren. Telefonierte so oft und so lange, wie es ihm möglich war.
Dem Radio entquollen Tränenmelodien einer arroganten Violine.
Eingewachst lag ich im viel zu kleinen Bett und ließ mir von Nietzsche die Welt erklären, während Andrej die Zeit auszusitzen versuchte. Er stemmte so einiges, aber stärker als die Zeit zu sein - da saßen wir wohl doch alle im selben Boot.
An den seltenen freien Tagen, wenn wir auf Ladeflächen kauernd in die Stadt rumpelten, die anderen ihr erackertes Geld in Ausschnitte stopften, aßen wir vernünftig und später begleitete Andrej mich dabei, neue Nietzsches, Kants und Sartres zu besorgen.
„Chast du eine Freundin?“, waren die Worte, die unsere erste wirkliche Unterhaltung einleiteten. Es war nach drei Wochen und wir saßen in einer schattigen Bar und tranken unsere Tagesration Wodka. Wir bezahlten mehr für den Schatten als für die Getränke.
„Nein“, sagte ich und legte Nietzsche zugeklappt auf die Tischecke.
„Das solltest du aber!“, sagte Andrej bestimmend und vorwurfsvoll, spülte einen Wodka seinen zerkratzten Rachen runter und fügte hinzu:
„Und was machst du dann hier? Für wen quälst du dich? Und in so jungen Jahren. Als ich zwanzig war, da chab ich jeden Tag Ausschau gehalten. Weißt du: Wenn du Frau zu Chause chast, für die es sich zu leben lohnt, dann stirbst du auch nicht. Keinen dieser Tode. Was steht da in diese Büchern? Wie man Frau bekommt?“
Ich stutzte und antwortete schließlich, dass es bei Nietzsche um Moraldenken geht.
„Und was bringt dir? Versuchst du herauszufinden, warum du lebst? Diese Menschen werden es dir nie sagen können, denn sie wichsen beim Schreiben! Desto mehr du verstehst von Welt, umso mehr entfernst du dich von ihr. Mach Augen auf und verdirb sie dir nicht durch zu viel schriftliche Wichse! Wenn du Mädchen küsst, fragst du dann noch nach Paradies oder was Bestimmung in diesem Leben sein könnte?
Der Mensch kann selbst entscheiden, ob er im Paradies leben möchte oder in Sodom.
Du bist hier in Sodom! Und denkst du, dass die vielen Scheine, die du mit nach Hause nehmen wirst, dir das Paradies eröffnen werden?“
Ich spannte überrascht die Schultern.
„Nein, das werden sie nicht! Sie machen dir die Hölle nur erträglicher.
Oder denkst du, wenn du von Sodom nach Gomorra siedelst, dass du Sodom dann vermissen wirst, es dir bei deiner Rückkehr gar erträglicher erscheint?
Es cheißt immer: Wer in den Himmel will, muss durch die Hölle gehen. Aber wer schon im Himmel ist, wird einen Engel nicht erkennen. Ich chabe meinen Engel erkannt und sie chat mir einen weiteren gebärt. “
Er entklebte sich vom Stuhl und schwitzte zur Toilette. Sicher, dass ich nicht antworten würde.
Seit diesem Tag ließen sich die Muttern immer widerspenstiger ins Gewinde drehen.
Für Gregor Andrejyewski