Liebe lakita,
ehrlich gesagt hab ich schon fast damit gerechnet, dass du dich auf meinen Verweis zu genannter Geschichte sowie meiner Bewertung oben hier melden würdest. Das folgerte ich, sobald ich wieder sah, wie geradezu überschwenglich du diese Geschichte damals kommentierst hast (aber auch viele andere taten das ja, wie man dort leicht nachlesen kann). Jetzt kristallisiert sich hier möglicherweise heraus, dass wir offenbar ganz unterschiedliche Anschauungen teilen.
Zu "Garrisons Stille" bin ich bereits damals in in diesem Beitrag sehr ausführlich eingegangen. Wenn jemand die Absicht hat, mich zu verstehen, sollte er oder sie dort nachschlagen, denn von meiner Bewertung damals würde ich auch heute noch um keinen Milimeter abweichen.
Wenn eine Geschichte so tot wie jeder Gegenstand ist, was schlußfolgerst du dann? Etwa, dass es sich um keine lesenswerte Geschichte handelt?
Darauf bin ich mit keinem Wort eingegangen. Du schließt offenbar von dir selbst auf mich. Anders kann ich mir deinen Verdacht und deine Annahme, ich hätte eine Schlussfolgerung vollzogen, nicht erklären.
Es ging mir zunächst einmal einfach nur um eine exemplarische Antwort auf arc cen ciels von mir noch mal zitierte Fragestellung nach einer Geschichte, die völlig ohne Fühlen geschrieben wurde. Weiterhin sah ich mich dazu veranlasst, meine beispielhafte Auswahl argumentiv zu untermauern - was mir übrigens gar nicht mal schwerfiel: Die für mich wirklich beeindruckende Seelenlosigkeit dieser Geschichte ist mir auch heute noch in lebhafter Erinnerung.
Es gibt für mich als Leser keine toten Geschichten, denn ich füge ihnen durch meine Gefühle Leben ein.
Zu dieser Ansicht, mit der ich ganz allgemein, also unabhängig von dir, gerechnet habe, bin ich oben bereits kurz eingegangen. Mit einer solchen Entscheidung entbindest du den Autoren von jeglicher Verantwortlichkeit, seinen Geschichten Gefühle beizugeben.
Dazu möchte ich eine passendes Beispiel anführen: Heute mittag konnte ich auf einem Flohmarkt, auf dem ich gerade unterwegs war, während ich mir die verschiedenen Stände ansah, ein kleines, so zwei, drei Jahre altes, blondes Mädchen beobachten. Es saß zu diesem Zeitpunkt auf dem Arm ihres Vaters, der sich, ebenso wie ich, die verschiedenen Stände ansah. Plötzlich knallte es aus der Ferne sehr laut. Und noch einmal. Und wieder. Es wurden, Punkt zwölf Uhr mittags, zur Eröffnung des diesjährigen Oktoberfestes heute, ganze zehn Explosionen verursacht, deren kleine, weiße Rauchwolken man am Himmel beobachten konnte. Das Mädchen fing zu schreien an. Ihr Vater konnte sie nicht beruhigen. Mit jeder neuer, lauten Explosion fuhr das Mädchen auf neue zusammen und schrie immer erbärmlicher nach ihrer Mama. Dabei streckte es hilflos einen ihrer Arme ins Leere. Ohne Ziel.
Ich empfand Mitleid mit dem Kind. Es wusste nicht, was geschah. Ihr Vater sagte dauernd zu ihr: "Ist ja gut. Es passiert dir nichts." und "Schau, da oben! Die Wolken! Und wieder eine. Immer, wenn es 'Bumm' macht!" Doch es verstand natürlich nicht. Wie hätte es das denn auch verstehen können? Und ich erinnerte mich in diesem Moment daran, was ich bisher über das Leben im zivilen Krieg erfahren habe, wenn Städte mit Raketen bombardiert werden. Dabei waren es nur die traditionellen Eröffnungsraketen für die diesjährige Wies'nzeit.
Worauf ich mit diesem, wei gesagt erst heute lebhaft erfahrenen Beispiel hinaus möchte: Man stelle sich einmal vor, das Mädchen hätte gar keine Angst gehabt - hätte aber trotzdem zu Weinen und zu Schreien angefangen! Und man stelle sich weiterhin vor, der Vater hätte mit seinem Kind abgesprochen, dass dieses zu Weinen und zu Schreien anfangen soll, sobald ich, als Zeuge dieses Ereignisses, in ihre Nähe komme und bestimmte Empfindungen in mir auslösen. Während sich auch der Vater, möglicherweise als alleiniger Drahtzieher, an diesem Schauspiel beteiligen wird.
Eine absurde Annahme, gewiss. Kinder lügen nicht. Jedenfalls nicht solange, bis sie es gelernt haben. Schreibende Autoren tun aber genau das. Sie lügen. Und das müssen sie zwangsläufig auch, denn sonst müssten all ihre Geschichten ein real erfahrenes Äquivalent aufweisen können. Und das ist, wir wissen das, nur äußerst selten der Fall.
Aber: Wenn eine Geschichte unter anderem die Themenbereiche "Stille" und "Einsamkeit" behandelt (wie bei "Garrisons Stille" geschehen), also Themen, die durchaus viel Potenzial haben, bestimmte Gefühle zu wecken, diese Themen von dem Autoren aber ausschließlich aus technischen Gründen in die Geschichte eingeflochten sind, nur um ein vollständiges Konstrukt für eine Handlung fertigstellen zu können, dann ist das für mich ungefähr so, als wenn das Kind in meinem Beispiel nur deshalb geweint hätte, weil es gerade zwölf Uhr mittags war oder ihr Vater ihr gesagt habe, dass sie jetzt mal weinen soll, weil es gerade so gut in einen bestimmten Kontext passt.
Ich hätte es als wirklich erschreckend empfunden, wenn das Kind nicht aus sich heraus geweint hätte (was ich Gott sei Dank nicht anzunehmen brauche), also stattdessen nur, weil äußere Umstände es ihr nahegebracht hätten, ohne es aber selbst zu empfinden. Was unterscheidet den Menschen nun von der Maschine? Sind es neben unserem Bewusstsein nicht vor allem unsere Empfindungen? Wenn nun einer Geschichte keinerlei Empfindungen immanent sind, wenn sie erkennbar leere Begriffe wie "Stille" und "Einsamkeit" instrumental missbraucht, dann meine ich durchaus, dass ich sie mit Recht als "tot" und nichts anderem bezeichnen kann.
Was natürlich nicht heißt, dass ich dieser toten Geschichte kein Leben mehr einhauchen könnte, indem ich mich in sie hinein versetze, diese zuvor leeren Begriffe mit meinen persönlichen Empfindungen anreichere. Aber ich meine, das ist ungefähr das gleiche, als wenn ich eine Leiche wieder versuche zum Leben zu erwecken, indem ich mir vorstelle, dass sie doch eigentlich noch wirklich am Leben ist. Dabei fällt mir unvermittelt Hitchcocks filmisches Werk "Psycho" ein, in dem Bates Mutter zwar einerseits längst tot ist, andererseits in Gestalt ihres Sohnes noch Jahre weiterlebt (aber für niemanden sonst).
Im Gegenteil geht es mir so, dass Geschichten, die mit jeder Menge Regieanweisungen überladen sind, was alles mit den Protagonisten gefühlsmäßig geschieht, mich eher in eine Art Zwangsjacke nehmen, weil ich nicht selbst anders fühlen darf.
Es geht nicht um eine Abwägung der Art: >Viele Details< - >Wenig Details<.
Es geht um Authentizität. Thematisierte Geschichte ist vollkommen unauthentisch. Und genau das ist das verurteilungswürdige daran.
Ich wage sogar zu behaupten, dass es viele Geschichten gibt, die deswegen so gerne gelesen werden, weil sich jeder auf seine individuelle Weise einfühlen kann, für sich selbst bestimmen kann, was er empfindet.
Wenn du es tatsächlich so meinst, wie du es hier schreibst, dann machst dir etwas vor. Niemand hat die Macht, darüber zu "bestimmen", was er oder sie empfindet. Schopenhauer meinte dazu sinngemäß gar
Der Mensch kann zwar tun, was er will;
aber er kann nicht wollen, was er will
Natürlich können wir uns überallhin "einfühlen". Wir meinen uns gar die ganze Welt damit "zu eigen" zu machen. Aber der Grund, weshalb ich in diesem Thema unter anderem Heideggers Philosophie erwähnt und zitiert habe, ist nun mal der bedrückende Verdacht, dass nicht wir es etwa sind, die uns diese Welt zu eigen machen, sondern dass es sich eben vielmehr geradewegs umgekehrt verhält. Wenn du nun weiterhin von "einfühlen" und "bestimmen" sprichst, bedeutet das für mich vor allem Anpassung und Entäußerung. Und sich an ausgewiesen bedeutungsfreie Geschichten anzupassen bleibt nicht ohne jede Gefahr.
Was veranlaßt dich einem Diamanten vorzuwerfen, dass du ihm nicht in die Augen schauen kannst? Wer will das schon?
Diese Frage (letztere) steht dir nicht zu. Warum vergleichst du mich mit anderen ("wer") ? In meinen Beiträgen gehe ich stets von mir persönlich aus.
Wichtiger, allgemeiner Hinweis: Philosophen sind keine Richter. Und die philosophische Ratte ist somit auch keiner.
Wer meint, dass ich zumindest zu diesem Thema hier auch nur irgendwelche Forderungen stelle, welche nicht wenigstens explizit als solche gekennzeichnet sind, sieht sich im Irrtum!
@Häferl: Ich weiß, dass der Thread damals eineinhalb Monate später noch weiter ging (dank deiner Initiative). Aber erstens mal liest Danalf diese Diskussion hier mit 99,9 % Wahrscheinlichkeit nicht mit (hat seitdem nichts mehr hier gepostet). Deshalb brauchst du ihn eigentlich nicht zu verteidigen, wie ich finde. Und zweitens hat sich mein Eindruck auch nach seiner geringfügigen Überarbeitung keinesfalls geändert (wenn du willst, nehm ich dein Urteil eben fortan aus und setze es nicht mehr meinem gleich).